„Ich glaube: es ist durch das Wort ‚glauben‘ in der Religion furchtbar viel Unheil angerichtet worden.“ Just die Verwendung dieses Wortes – so Wittgensteins paradoxer Befund 1937 – lässt christliche Religiosität unverständlich scheinen. Erst wenn wir uns durch das Verb ‚glauben‘ nicht weiter beirren lassen, sind die Verständnisschwierigkeiten nicht mehr unüberwindbar. Beim Erläutern derartiger Schwierigkeiten bezieht der Philosoph in eine späte Diskussion den „Totemismus“ ein. Er äußert sich kritisch zu diesem heute obsoleten Begriff, der in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende Gegenstand einer kontroversen anthropologischen Debatte gewesen war. Eine Hauptgestalt dieser Diskussion, in der es vor evolutionistischem Hintergrund auch um die Urreligion ging, war der Wittgenstein damals schon lange vertraute James George Frazer gewesen. Wittgensteins späte philosophische Untersuchung, in der es nicht unbedingt um den schottischen Anthropologen geht, dreht sich weiterhin um das Hauptthema seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Ist „durch das Wort ‚glauben‘“ auch in der Anthropologie „furchtbar viel Unheil angerichtet worden“? Auch hier darf der undifferenzierte Gebrauch von ‚glauben‘ – diesmal eher durch die Ethnologen als durch die Akteure selbst – nicht dazu führen, dass Lebensformen unverständlich werden. Angesichts der unqualifizierten Frazer`schen Verwendung etwa von belief, believe und faith war Wittgenstein 1931 der pauschalen Forderung nahegekommen, auf Worte wie ‚glauben‘ oder ‚meinen‘ ganz zu verzichten. Davon ist Mitte der vierziger Jahre nicht mehr die Rede. Wittgenstein, der inzwischen seine philosophische Methode deutlich weiterentwickelt hat, verfeinert nun seinen Lösungsansatz und erreicht differenziertere Ergebnisse als 1931.
„Ich glaube: es ist durch das Wort ‚glauben‘ in der Religion furchtbar viel Unheil angerichtet worden.“ Wittgenstein und das Ende des Totemismus
marco brusotti
2024-01-01
Abstract
„Ich glaube: es ist durch das Wort ‚glauben‘ in der Religion furchtbar viel Unheil angerichtet worden.“ Just die Verwendung dieses Wortes – so Wittgensteins paradoxer Befund 1937 – lässt christliche Religiosität unverständlich scheinen. Erst wenn wir uns durch das Verb ‚glauben‘ nicht weiter beirren lassen, sind die Verständnisschwierigkeiten nicht mehr unüberwindbar. Beim Erläutern derartiger Schwierigkeiten bezieht der Philosoph in eine späte Diskussion den „Totemismus“ ein. Er äußert sich kritisch zu diesem heute obsoleten Begriff, der in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende Gegenstand einer kontroversen anthropologischen Debatte gewesen war. Eine Hauptgestalt dieser Diskussion, in der es vor evolutionistischem Hintergrund auch um die Urreligion ging, war der Wittgenstein damals schon lange vertraute James George Frazer gewesen. Wittgensteins späte philosophische Untersuchung, in der es nicht unbedingt um den schottischen Anthropologen geht, dreht sich weiterhin um das Hauptthema seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Ist „durch das Wort ‚glauben‘“ auch in der Anthropologie „furchtbar viel Unheil angerichtet worden“? Auch hier darf der undifferenzierte Gebrauch von ‚glauben‘ – diesmal eher durch die Ethnologen als durch die Akteure selbst – nicht dazu führen, dass Lebensformen unverständlich werden. Angesichts der unqualifizierten Frazer`schen Verwendung etwa von belief, believe und faith war Wittgenstein 1931 der pauschalen Forderung nahegekommen, auf Worte wie ‚glauben‘ oder ‚meinen‘ ganz zu verzichten. Davon ist Mitte der vierziger Jahre nicht mehr die Rede. Wittgenstein, der inzwischen seine philosophische Methode deutlich weiterentwickelt hat, verfeinert nun seinen Lösungsansatz und erreicht differenziertere Ergebnisse als 1931.File | Dimensione | Formato | |
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