Wenn geisteswissenschaftliche Fächer im 19. Jahrhundert Vergleiche vornehmen, verhandeln sie Ursprungsfragen; sie wollen auf Genesen, Entwicklungen, kausale Zusammenhänge, Deszendenzen, Evolution hinaus. Um die Wende zum 20. Jahrhundert zeigt sich dagegen eine extreme Spannung zwischen den Fragen nach der Form und denen nach der Geschichte. Im deutschsprachigen Raum erweist sich in dieser Situation Goethes Morphologie als außerordentlich attraktiv: Sie bietet sich als eine mögliche Lösung des konfligierenden Verhältnisses von Genese und Gestalt oder Historismus und Formalismus an. Vertreter sehr unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher und philosophischer Anliegen greifen daher auf die Morphologie zurück. Die Erwartungen, was die morphologische Methode wirklich leisten soll und kann, liegen jedoch dabei weit auseinander. Aus diesem weitläufigen und heterogenen Feld der Aktualisierung oder Beanspruchung von Goethes Morphologie für Fragestellungen des 20. Jahrhunderts greift unser Beitrag zwei Ansätze heraus: zum einen denjenigen Aby Warburgs, der sich v. a. in seinem Mnemosyne-Atlas manifestiert, zum anderen denjenigen Ludwig Wittgensteins, der sich in der Auseinandersetzung des Philosophen mit Spenglers Kunst des Vergleichens und mit der vergleichenden Methode des evolutionistischen Anthropologen James Frazer zeigt. Zwischen beiden Ansätzen besteht nicht nur zeitliche Kontiguität; was sie bei aller Differenz verbindet, ist die Goethe’sche Intention, ein Problem in einer ›übersichtlichen Darstellung‹ zu präsentieren und es damit auch zu ›lösen‹. Warburgs Mnemosyne-Atlas wird hier mit Wittgensteins scharfsichtigen Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Goethe’schen Morphologie beleuchtet. Aus dieser Perspektive lassen sich grundlegende methodologische Probleme von Warburgs Unternehmung klarer als sonst zeigen. Insofern sie aber nur einer von mehreren Goethes Naturwissenschaften aufgreifenden Ansätzen jener Zeit ist, führt unsere Untersuchung einige bislang getrennt verlaufende Forschungsstränge zusammen und leistet so einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Kunst des Vergleichens. Warburg, Wittgenstein und die Serendipity morphologischer Reihen

Brusotti, Marco;
2017-01-01

Abstract

Wenn geisteswissenschaftliche Fächer im 19. Jahrhundert Vergleiche vornehmen, verhandeln sie Ursprungsfragen; sie wollen auf Genesen, Entwicklungen, kausale Zusammenhänge, Deszendenzen, Evolution hinaus. Um die Wende zum 20. Jahrhundert zeigt sich dagegen eine extreme Spannung zwischen den Fragen nach der Form und denen nach der Geschichte. Im deutschsprachigen Raum erweist sich in dieser Situation Goethes Morphologie als außerordentlich attraktiv: Sie bietet sich als eine mögliche Lösung des konfligierenden Verhältnisses von Genese und Gestalt oder Historismus und Formalismus an. Vertreter sehr unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher und philosophischer Anliegen greifen daher auf die Morphologie zurück. Die Erwartungen, was die morphologische Methode wirklich leisten soll und kann, liegen jedoch dabei weit auseinander. Aus diesem weitläufigen und heterogenen Feld der Aktualisierung oder Beanspruchung von Goethes Morphologie für Fragestellungen des 20. Jahrhunderts greift unser Beitrag zwei Ansätze heraus: zum einen denjenigen Aby Warburgs, der sich v. a. in seinem Mnemosyne-Atlas manifestiert, zum anderen denjenigen Ludwig Wittgensteins, der sich in der Auseinandersetzung des Philosophen mit Spenglers Kunst des Vergleichens und mit der vergleichenden Methode des evolutionistischen Anthropologen James Frazer zeigt. Zwischen beiden Ansätzen besteht nicht nur zeitliche Kontiguität; was sie bei aller Differenz verbindet, ist die Goethe’sche Intention, ein Problem in einer ›übersichtlichen Darstellung‹ zu präsentieren und es damit auch zu ›lösen‹. Warburgs Mnemosyne-Atlas wird hier mit Wittgensteins scharfsichtigen Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Goethe’schen Morphologie beleuchtet. Aus dieser Perspektive lassen sich grundlegende methodologische Probleme von Warburgs Unternehmung klarer als sonst zeigen. Insofern sie aber nur einer von mehreren Goethes Naturwissenschaften aufgreifenden Ansätzen jener Zeit ist, führt unsere Untersuchung einige bislang getrennt verlaufende Forschungsstränge zusammen und leistet so einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
2017
978-3-496-01578-9
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